6. Tag
Gestern hatte ich ja geschrieben, dass ich das Gefühl hatte, irgendwo im Niemandsland oder am Ende der Welt gestrandet zu sein. Der Blick ins Roadbook wirkte zunächst wie Hohn auf mich, ich bin im Nirgendwo, und muss da lesen: "Nutzen Sie die vorzügliche Lage Ihrer Unterkunft aus und gehen Sie auf Entdeckungstour"... Vorzügliche Lage, was soll denn das? Frühstück war für diesen Tag schon für 7.00 Uhr vorgesehen, um 8.00 Uhr wartete Hugo, um mit mir durch den Regenwald zu wandern.
Wussten Sie eigentlich, dass die Costa Ricaner echte Frühaufsteher sind? Ich nicht. Doch die ersten Tage zeigten mir auch warum: In Costa Rica wird es um 5.00 Uhr morgens hell, mit dem Nachteil, dass um 18.00 Uhr schon wieder stockdunkle Nacht herrscht. Also, wer was sehen will, muss früh aus den Federn. Nachdem ich ja sowieso mit den Jetlag fertig werden musste, habe ich - normalerweise Langschläfer - meinen persönlichen Rhythmus dem Tag so angeglichen, dass sich 6.00 Uhr für mich wie 9.00 Uhr anfühlte.
Aber zurück zu Hugo... Fast mitleidig blickte er auf meine grobstolligen Wanderschuhe, und deutete mir an, ich solle sie doch besser durch die Gummistiefel, die er mir in meiner Größe passend zureichte, ersetzen. Patron Marco nickte und sagte, es sei besser für mich. Wie recht er doch hatte.
Mit meinem Auto ging es zunächst noch ein paar Kilometer in den Wald hinein. Dann ließ mich Hugo anhalten. Er reichte mir einen Stecken und sagte, ich würde ihn auch brauchen, in der Tat, er wurde zu einer wertvollen Stütze. Na, so richtig verstand ich Hugo zwar nicht immer, denn er sprach Spanisch, ganz wenige Bocken Englisch und ein, zwei Wörter Deutsch. Sollte mir während der Wanderung durch den Regenwald also alles im wahrsten Sinn des Wortes Spanisch vorkommen? Doch weit gefehlt, Hugo hat ein besonders Talent zu erklären, und so merkte ich manchmal gar nicht, dass er Spanisch sprach. Und je länger die Tour dauerte, um so mehr faszinierte mich der Regenwald. Hugo ist ein aufmerksamer Beobachter und zeigte mir besondere Tiere und Pflanzen, an denen ich normalerweise vorbeigegangen wäre, weil ich sie gar nicht beachtet oder gesehen hätte. Er drehte ein Blatt, darunter verbarg sich eine zehn Zentimeter lange, gefährlich aussehende Raupe, er lachte, als ich zurückzuckte. Er kniete an einem unscheinbaren Erdloch nieder und zeige mir die Tarantel, die sich darin versteckte. Viele Pflanzen des Regenwalds haben medizinische Wirkung... Hugo ritzte mit seiner Machete einen Baum an, eine milchige Flüssigkeit trat hervor: es roch nach Kampfer. Und so ging es Schritt um Schritt weiter hinein in den Regenwald. Hugo erklärte, ich staunte. Mir lief das Wasser in Strömen herunter, diesmal nicht vom Regen, nein es war mein Schweiß. Dass am Ende des dreistündigen Marschs mir der Schweiß zentimeterhoch in den Stiefeln schwappte, wunderte mich schon gar nicht mehr. Es war trotz aller Anstrengung ein tolles Erlebnis, mit einem solchen Führer durch die Wildnis zu streifen. Hin und wieder bis zu den Knöcheln im Morast zu versinken, nahm ich gelassen hin. Der Weg führte über Brücken, die nichts anderes waren als umgestürzte Baumstämme - auch ein bisschen abenteuerlich, denn auch die giftigen roten Frösche waren hin und wieder zu finden, ab und an hing über mir auch eine große Spinne in ihrem Netz, auch solche wie die Bananenspinne.
Eine Erfrischung, die die Natur bereithielt, gab es am Ende des schweißtreibenden Exkurses auch: Köstlich schmeckte das Fruchtwasser der Kokosnuss.
Doch das Naturerlebnis an Ende der Welt fand am Nachmittag noch eine Fortsetzung: Im nassen Element. Im doppelten Sinn. Eine Bootsfahrt auf dem Rio San Carlos war angesagt. Boot war schon ein wenig anmaßend für den schmalen Nachen der dann von Hugo gesteuert wurde. Auch zu Wasser erwies sich der Costa Ricaner als guter Kenner der Gegend. Träge floss die bräunliche Flut dahin, Hugo steuerte behutsam das Ufer an: ein etwa vier Meter langes Krokodil lag dort träge und schenkte uns offensichtlich keinerlei Notiz. Nur etwa fünf Meter von der Echse entfernt hatte ich auch kein steigerndes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Das Boot tuckerte weiter vorbei an Reihern, kleinen Krokodilen und allerlei Vögeln begleitet vom lauten und seltsamen Bellen der Brüllaffen, die sich offenbar von uns Eindringlingen gestört fühlten. An der Grenze zu Nicaragua wendet Hugo das Boot und nahm Kurs auf eine kleine Hüte am Ufer. Und plötzlich öffnete der Himmel mal wieder seine Schleusen. Hugo erledigte an der Polizeistation einige Formalitäten. Die Grenzer nehmen es offenbar dort sehr genau.
Derweil konnte ich mich mit einem Kaffee stärken, bevor Hugo im strömenden Regen Kurs auf die Lodge nahm. Irgendwie hatte ich über all mein Staunen über die Vielfalt der Natur, wie sie sich mir darbot, vergessen, dass ich mich gefühlt am Ende der Welt befand... ein schönes Ende aber, und ich wünsche, dass hier noch lange das Ende der Welt ist. Sollte ich je wieder einmal nach Costa Rica kommen, ich werde wieder zu Marco fahren und mir dort von Hugo seine Welt zeigen lassen.